Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 9. Dezember 2012

Das Hohelied der Begabung



Liebe Lilli,

Herzlichen Dank für Deine spannende Antwort. Ja, das sind faszinierende Themen: Moral, Gehorsam, Mut, Kraft und: Freiheit! Ich meine die Freiheit des Denkens, aber auch des Handelns. 

Der liebe alte Kant hat uns da ein Thema hinterlassen, was weit über das Verständnis seiner Zeit hinaus ging. (Von Hochbegabung war damals wahrscheinlich gar nicht die Rede, und seine Talente auszuleben hatte wohl auch nicht jeder die Chance).

Der Gedanke war von Hannah Arendt: „Wir sind auch für unseren Gehorsam verantwortlich.“ Und das ist die geniale Zusammenfassung einer der schwierigsten Aufgaben im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung! Wie das bei Hochbegabten häufig vorkommt, zweifeln sie nämlich auch an der Notwendigkeit von Gehorsam schon sehr früh. In der Folge entwickeln sie nicht selten eine allgemeine Ablehnung von Autorität und Widerstand gegen Autoritäten.

Und schon tun sich die ersten moralischen Fragen auf: Ist Ungehorsam anständig oder unanständig? Ist jede Form von Gehorsam ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit? Hannah Arendt sagt: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen“ (1), als wäre es ein Gut, was einem zugesprochen würde – je nach Gutdünken von wem? Wer entscheidet darüber, ob wir gehorchen dürfen, müssen, können?

Ich freue mich gelegentlich an der tiefen Weisheit des alten Volksliedes: 

Die Gedanken sind frei


Die Gedanken sind frei, 
wer kann sie erraten? 

Sie fliegen vorbei 
wie nächtliche Schatten. 
Kein Mensch kann sie wissen, 
kein Jäger erschießen 
mit Pulver und Blei. 
Die Gedanken sind frei! 

Ich denke, was ich will 
und was mich beglücket, 
doch alles in der Still', 
und wie es sich schicket. 
Mein Wunsch und Begehren 
kann niemand verwehren, 
es bleibet dabei: 
Die Gedanken sind frei! 

Und sperrt man mich ein 
im finsteren Kerker, 
ich spotte der Pein 
und menschlicher Werke; 
denn meine Gedanken 
zerreißen die Schranken 
und Mauern entzwei: 
Die Gedanken sind frei! 

Drum will ich auf immer 
den Sorgen entsagen, 
und will mich auch nimmer 
mit Grillen mehr plagen. 
Man kann ja im Herzen 
stets lachen und scherzen 
und denken dabei: 
Die Gedanken sind frei! (2)


Wenigstens das haben doch alle Philosophen gekonnt und getan, sie haben gedacht! Dass nicht jeder seine Gedanken für sich behalten hat, ist für uns heute ein großer Vorteil: Wir müssen nicht jeden Gedanken selbst neu finden, sondern können die der Vordenker auseinandernehmen – und akzeptieren oder widerlegen. Auch das ist nämlich so eine moralische Frage: Wieso glaubt ein Mensch wie Kant, ausgerechnet er könne ein Prinzip finden, das für alle Menschen gleichermaßen gilt? Ist das nicht anmaßend und somit unmoralisch? Ist er denn berufen, anderen Prinzipien zu geben? Wer hätte ihn dazu berufen können?

Arme Sophie (3) (danke Dir, liebe Lilli für den Video- Tipp), da muss sie nun für ihr Referat ausgerechnet mit ihrem persönlichen Dilemma, ihrer Liebe zu einem verheirateten Mann, als Feuerprobe für Kants Moralphilosophie herhalten. Dabei ist Liebe doch eine Naturgewalt! Und die Ehe ist es nicht – sie ist eine zivilisatorische „Errungenschaft“, zu deren Rechtfertigung ganze Gesetzbücher und Ideologien existieren.

Wie schön, wenn man darüber nur philosophieren darf und keine Lösung suchen muss! Denn für moralische Konflikte gibt es nun mal keine Lösung, die für alle Menschen gleichermaßen die  richtige oder die falsche Lösung wäre! Und zum Glück muss auch Sophie nur für sich selbst entscheiden: Verzicht oder bewusster Regelverstoß betreffen ihr Verhalten – und je nachdem wie sie sich entscheidet, wird sie entweder viel Kraft und Mut brauchen oder ziemlich viel leiden müssen. Aber immer wird das, was sie danach erlebt, auf ihre Entscheidung zurückzuführen sein. Sie wird sich selbst sagen können: Ich habe meine Entscheidung getroffen – und dazu stehe ich, auch wenn es nicht jeder versteht oder akzeptiert.

Auch mir hat die Geschichte sehr gut gefallen, denn sie zeigt durch ihre Dialoge neue Perspektiven auf und verhilft so vielleicht manchen Menschen zu mehr Weisheit.

Liebe Lilli, Du hast ja soooo Recht! Ent-Spannung setzt Kräfte frei!
Tatsächlich kenne ich auch verschiedene Varianten, sich mit Tiefenentspannung in den Alpha-Theta- Zustand der inneren Klarheit zu versetzen. Ein von mir sehr geschätzter Freund und Kollege hat mit einem Partner zusammen dazu gerade ein sehr praktisches Buch herausgebracht: Erlebe Deine Kraft. Lass Dein Unterbewusstsein für Dich arbeiten und erreiche alle Deine Ziele (4).

Das ist etwas für diejenigen, die verstehen möchten, was da passiert. Und die sicher sein möchten, dass sie nicht von jemand anderem manipuliert werden – sondern tatsächlich selbst der Kapitän ihres Lebensschiffes sind. Es ist kein Chaka – Zauber- Brimborium, sondern einfach die bewusste Nutzung des eigenen Unterbewusstseins FÜR und nicht GEGEN die eigene Natur.

Denn dort landen ja schließlich auch bei unseren Hochbegabten meist die moralischen Kraftfresser: Im Unterbewusstsein. Und der Gedächtnis-Speicher der vielen anerzogenen „Du darfst nicht“, „Man muss doch“, „Wenn nun jeder“ usw. enthält bei Hochbegabten ein ganz besonders umfangreiches Archiv von (gefälligst zu vermeidenden) Fehler- Risiken. Klar, dass einem diese Fehler bei anderen eher auffallen – aber man möchte ja auch selbst möglichst keine Fehler machen. Also lieber erst noch mal  überlegen…

Und dazu braucht man natürlich außer Zeit auch Kraft: Unser Gehirn verbraucht schon im „Ruhezustand“ (wie geht der? – es gibt keinen „OFF“- Knopf!) 20% der Energie und 50% des Sauerstoffs vom Gesamthaushalt unseres Organismus! Kein Wunder also, wenn uns auch vom Denken manchmal die Kraft ausgeht.

Wie Du hatte ich vor kurzem auch so ein wundersames Erlebnis: Ich war unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch bei einem Konzern in Leverkusen. Wie immer klappte die Bahnverbindung nicht zuverlässig und ich musste einen Umweg mit der S-Bahn von Köln fahren. Und wie ich so frustriert aus dem Fenster schaue und versuche, keine unangenehme Stimmung aufkommen zu lassen, fährt da draußen (scheinbar) ein Plakat vorbei: Ein Mädchengesicht und ganz groß der Schriftzug: „Du bist gut!“

Ha, danke dem Erfinder! Und dem Gestalter! Und der Philosophie dahinter!
Denn das ist es, was wir uns immer wieder sagen sollten: Wir sind gut!
Das bedeutet keineswegs „besser als andere“, sondern einfach nur „gut“. Und es gelang mir, genau das zu tun, was Du vorschlägst:

„Schlagen wir dem Stress doch einfach mal ein ‚Schnippchen’! Und das tun wir in erster Linie mit einer neuen Einstellung und Haltung zu uns und unserem Leben.“

Georg Bernard Shaw mag zwar Recht haben: „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das von sich eine schlechte Meinung hat.“ Aber es geht ja auch anders! Da der Mensch nun mal unausweichlich eine Meinung von sich selber haben muss, warum sollte dies nicht eine gute Meinung sein?

Man muss dazu nicht unbedingt eine „Größe“ sein, ein VIP oder eine exotische Berühmtheit. Die „kleinen“ Heldentaten des Alltags machen uns viel häufiger zu guten Menschen, als uns das bewusst ist.
Egal, ob wir Blut spenden, Nachhilfe-Unterricht geben oder einfach dem Kollegen aus einer verflixten Computerfalle heraushelfen – wir können so vielen andern Menschen nützlich sein. Und deshalb habe ich die Idee, Deinem Song für Hochbegabte eine weitere Strophe hinzuzufügen:

Ich war nie wirklich klein, das hab ich nur gedacht.
So wie ich bin, bin ich o.k. Die Klarheit gibt mir Kraft.
Ich mach mich nicht mehr klein, ich zeige was ich kann.
Weil es so viel zu tun gibt, pack ich es mutig an.

IQ kann dabei helfen, ich nutze was ich hab –
und gebe so das Beste für alle andern ab.
Die andern können auch sehr viel, ich nehme gerne an.
Was andere so leisten ist auch sehr gut getan

Niemand wird klein geredet – ob schön, ob jung, ob klug
Wir brauchen jeder jeden, zu tun gibt es genug.
So kann ein jeder wachsen nach seinem Potenzial
Was er für andre leistet, ist seine eigne Wahl!

(Naja, eine Dichterin wird aus mir wohl doch nicht werden)



Die Linden sind auch nachts grün




Troika mit Tausenden



Wahrheit

Fotos: Karin Rasmussen


Liebe Lilli, das Weihnachtsfest und der Jahreswechsel rücken ungestüm auf uns zu und damit ein weiterer Höhepunkt: Die Mensa-Silvesterparty in Berlin mit jetzt schon mehr als 300 Gästen aus ganz Europa (5) und zahlreichen interessanten, amüsanten, inspirierenden und: verbindenden(!) Veranstaltungen. Ich freu mich riesig! Vielleicht treffe ich sogar ein paar von unseren LeserInnen?

Und Dir wünsche ich eine besinnliche, entspannte, freudvolle Weihnachtspause. Wir werden uns wohl erst im Neuen Jahr wieder unserem Gedankenaustausch widmen. Das ist ganz gut. So können wir mal in  Ruhe Revue passieren lassen, was uns schon alles bewegt hat, Bilanz über die bisherigen Fortschritte ziehen und auswählen, was wir in unser Buch packen.

Lass es Dir also gut gehen.
Sei herzlich umarmt.
Und Danke, dass es Dich gibt.
Alles Liebe

Deine Karin

1 zit. nach: Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Eine Rundfunksendung aus dem Jahre 1964,
2 Volkslied, ca. 1790 bearbeitet von Hoffmann von Fallersleben, 1841 (Erstdruck 1842)