Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Samstag, 24. Dezember 2011

Warum wissen geschätzte 99% der Hochbegabten gar nicht …?

Liebe Karin,

ich steig mal gleich ein: „dass viele Menschen ein Problem damit haben, sich selbst zu beschreiben.“ Ja, das erlebe ich auch in meinen Seminaren. Besonders in Erinnerung ist mir dabei die Erzählung einer Münchnerin.
Ich bat alle Frauen der Seminarrunde,  sich selbst mit ein paar Worten vorzustellen. So auch die Teilnehmerin von der Isar.

Sie plauderte auch gleich drauf los und nach zwei aufmerksamen Minuten wussten wir, welchen Beruf der Ehemann ausübt, wo der Sohn seine Ausbildung als Kfz-Techniker absolviert und wie es um das Abitur der Tochter bestellt ist. Bevor die  Bayerin – nennen wir sie mal Alice – uns berichten konnte, was denn die Eltern und Schwiegereltern so machen, wiederholte ich meine Bitte: „Erzählen Sie uns doch ein wenig von sich und Ihrem Leben.“

Funkstille.

Nach einer Weile: „Ich bin nicht gewohnt, direkt von mir zu sprechen.“

Funkstille.

Sollten wir warten? Oder später noch einmal nachfragen?
        
Schliesslich begann Alice zu reden. Und so erfuhren wir, dass sie lange in einem südlichen Kontinent gelebt hatte – wie 365 Tage im Jahr Abenteuerurlaub. In ihrer Freizeit betreute sie sozial benachteiligte Jugendliche. Im Sport holte Alice eine Reihe von internationalen Auszeichnungen. Und zwei Berufsausbildungen hat sie auch: Kunsthistorikerin und Ärztin.

Warum sie das nicht gleich sagen konnte – das sagte sie uns auch: Würde ich über mich sprechen können – würde ich dann ein Coaching-Seminar besuchen?

Alice spricht mehr Sprachen als wir Finger an einer Hand haben. Ihre selbst entworfenen Kleidungsstücke würden manchem Top-Designer zur Ehre gereichen – und wenn sie Essen zubereitet, fragt man sich: Warum macht sie das nicht im Fernsehen? Ob sie hochbegabt ist? Keine Ahnung. Mit den wilden Tieren ist sie auf du und du – echte Angst hat sie nur vor einem IQ-Test. Denn im Grunde genommen hält sie sich eher für unklug, unintelligent und unterdurchschnittlich.

Ich finde sie einfach genial!

Manchmal frage ich mich, mit was ein sehr empfindsames Selbstbewusstsein korreliert – also in Verbindung gebracht werden kann. Es fällt mir auf, dass hochbegabte Frauen und Männer weniger selbstbewusst erscheinen als andere Menschen. Du sprichst von einer möglichen „falschen Bescheidenheit“.

Ich denke darüber nach und frage mich: Von was wird diese „Bescheidenheit“ gespeist? Von einem eingeschränkten Selbstbewusstsein? Von mangelnder Selbstwertschätzung?

Kann es sein, dass hochbegabte Menschen ein feineres – differenzierteres? –  Wahrnehmungssystem haben? Und/oder: Stehen Hochbegabten umfangreichere Skills, also Fähigkeiten und Kompetenzen, zur Verfügung? Etwa wie eine Körperanalysewaage – sorry, liebe Hochbegabte für diesen Vergleich - , die nicht nur das Allgemeingewicht  anzeigt, sondern darüber hinaus das Fettgewicht, Muskelgewicht, Knochengewicht u.a.m.?

Haben hochbegabte Menschen ein so erlesenes „Instrumentarium“ der Wahrnehmung, dass ihnen profane Aussagen wie die Angabe der sozio-demografischen Merkmale - etwa Alter, Familienstand, Familienstruktur, Nationalität, Religionszugehörigkeit - nicht über die Lippen kommen können?

Kann es sein, dass sie auf die Frage, wo sie leben, nicht einfach sagen können: In Berlin. Oder: In Hamburg. Oder: In Köln.

„Müssen“ sie bemerken, dass sie in einem der multikulturellsten Zentren der Domstadt Köln … in Ehrenfeld – in der Nähe des neu renovierten Neptunbads – dieser modernen asiatisch-japanische Wellnesslandschaft … ja, was denn nun?
 „Sich niedergelassen haben“? Oder  „wohnen“? Oder nur für das Einwohnermeldeamt dort registriert sind – und eigentlich …

Die meisten Zuhörer/innen – wer sagt eigentlich, dass ZUHÖREN keine Kunst sei? – die meisten Zuhörer haben wahrscheinlich schon das Weite gesucht. Wer will es denn so genau wissen? Ich meine ausser einem Coach, einer Journalistin oder einem Sozialforscher? Na ja, gut: Psychotherapeuten.

Und wenn Hochbegabte erleben, dass ihre so differenzierte Antwort zumeist nicht gefragt ist, werden sie irgendwann schweigen, weil sie eine profane Aussage nicht über ihre Lippen bringen können – wollen?

Ist es da nicht verständlich, dass sie denken: die Welt versteht mich nicht? Obwohl: so eine allgemeine Anmerkung wie „die Welt“ wird sich in diesem Kontext kaum in ihrem exquisiten Kopf niederlassen können.

So frage ich mich – und jetzt auch Dich – wie können wir Gedanken wie Schüchternheit, Bescheidenheit, Selbstbewusstsein, Selbstwertschätzung und Selbstbehauptung vor dem Hintergrund von Hochbegabung sortieren? Ich bin gespannt!

Ich stelle mir nun vor, dass Du umgeben bist von lieben Menschen, Tannenzweigen und Köstlichkeiten für die Sinne. Eine himmlische Zeit wünsche ich Dir -  für jetzt und das Jahr 2012!

Hier ist alles in kühles Weiss getaucht – soweit das Auge reicht. Und ein Schneemann tut so als würde er fröhlich winken. So winke auch ich.

Bis zum neuen Jahr,
herzlichst
Deine Lilli