Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 15. April 2012

Fairness und Respekt oder lieber Wettbewerbsverweigerung? Warum Hochbegabte manchmal wenig Lust auf Pflichterfüllung haben

Liebe Lilli,

Du hast es geschafft: Deine Idee, eine Einstein-Erbin zur Gründerin einer „IQ 130- Partei“  für die Förderung von Hochbegabten zu erklären, kam am 1. April genau richtig! Und dann auch gleich noch mit Regierungsbeteiligung!

So viel komplexer Humor ist wirklich nicht leicht als Scherz zu verdauen. Gelacht habe ich aber doch – denn auch diese Idee hast Du nicht allein. Und deshalb wäre ich fast auf Deinen Aprilscherz hereingefallen. Es war wie bei dieser wohlbekannten Aufmerksamkeitsübung: Lesen Sie alles, bevor Sie etwas ausführen! In meinen Seminaren lesen die meisten Teilnehmer nicht alles, sondern beginnen meist schon nach dem zweiten Satz mit der Ausführung – um nach 18 weiteren (sinnlosen) Anweisungen endlich am Schluss zu lesen „Tun Sie nichts!“

Vielen Dank für Deine ausführliche Antwort und die ergreifende Schilderung von Marias Weg! Ja, es ist schmerzhaft, immer wieder Beispiele von verzweifelten Menschen zu erleben, die sich mit ihren Sorgen und Problemen ganz allein gelassen fühlen. Und die dann auch noch beschuldigt werden, ihr schweres Schicksal selbst verursacht zu haben. Das ist vor allem dann unerträglich, wenn man mit rechtzeitiger Aufmerksamkeit das Schlimmste sogar ohne großen Aufwand hätte verhindern können. Gut, dass Maria nicht gestorben ist und nach so vielen harten Kämpfen endlich doch einen Weg zu sich selbst gefunden hat. Gut, dass Du ihr dabei geholfen hast! Und auch Dein Beispiel von dem hochgradig intelligenten Jungen aus Dresden, dessen Familie gar nichts von einer Hochbegabung wissen wollte, weil er ein „anständiger Arbeiter“ sein sollte: Das ist kein trauriges Einzelbeispiel, sondern höchstens die Spitze eines immer noch riesigen Eisbergs von Unwissenheit. Zwar bemühen sich inzwischen viele Kollegen von uns, auch engagierte Eltern, Neurologen, Pädagogen und Psychologen um mehr Verständnis in der Öffentlichkeit, aber scheinbar halten sich unsere gemeinsamen Erfolge noch in engen Grenzen. Aber vielleicht sind wir auch nur – was typisch für uns wäre(?) – zu ungeduldig? Vielleicht kommt die Ablehnung des Themas Hochbegabung einfach aus der Unsicherheit und fehlendem Wissen? Wer hat schon Grund, sich mit einem Thema genauer zu befassen, das scheinbar nur 2% - 5% der Menschen überhaupt betrifft? Übrigens: Fritz Oser und Maria Spychiger beschreiben in ihrem Buch „Lernen ist schmerzhaft“ [1]auch, warum sich Neues oft so langsam umsetzen lässt.

Das ist übrigens auch ein Zusammenhang, den viele Hochbegabte erst mal verstehen müssen. Sie wissen meist sehr genau, was sie eigentlich tun müssten, wie sie vorgehen sollten, worauf es ankommt um Erfolg zu haben – aber sie tun es nicht! Stattdessen fallen sie immer wieder in die gleichen, längst als falsch erkannten Verhaltensmuster zurück. Ganz klar: Auch Hochbegabte haben innere Barrieren. Und daran sind bei weitem nicht immer andere Menschen oder das Unverständnis der Umwelt schuld. Aber selbst wenn: Du schreibst ganz richtig, dass auch bei äußerst schlechten Vorzeichen und ungünstigsten Bedingungen der eigene Weg gegangen werden kann und dass man dafür auch Hilfe findet. Man muss sich allerdings der Suche stellen. Der Suche nach dem eigenen Weg ebenso wie der Suche nach geeigneten Partnern. Und diese Suche ist ein Prozess, ein schmerzhafter Lernprozess (s. Oser). Unser Gehirn hat nun mal seine eigenen inneren Funktionsgesetze, die sich nicht so einfach von unserem Charakter beeindrucken lassen. Das heißt: Wollen allein genügt nicht! Und manchmal ist das, was wie ein Umweg aussieht, geradezu die Hauptstraße zu uns selbst. Warum also nicht mal von den standardisierten Entwicklungswegen Schule-Ausbildung-Studium-Beruf abweichen? Warum nicht mal jemanden fragen, der kein hauptamtlicher Lehrer ist?

Ich habe gerade so einen jungen Menschen im Coaching, der seinen Hochschullehrern und Dozenten besonders kritisch gegenüber steht – diese müssten seiner Meinung nach sehr viel mehr wissen und können, als sie „bieten“. Es ist doch ihr Beruf, seine Fragen zu beantworten. Sie sind doch Professoren, Doktoren, angestellt für Wissensvermittlung – warum wissen sie dann nur so wenig und so vieles nicht? Er meint, diese „Typen“ einfach nicht respektieren zu können.
Doch warum erwartet er, dass gerade sie schlauer sind als er selbst?

Auch bei meinem Vortrag im Ostercamp der DGhK[2] hatte ich ein ähnliches Erlebnis: Ein engagierter Vater wollte doch tatsächlich wissen, wie er seinen 6jährigen Sohn darauf vorbereiten könnte, dass dieser später „ständig einen unterbelichteten Chef“ haben würde. Als müssten Chefs automatisch immer schlauer sein als ihre Mitarbeiter!

Woher kommt diese Geringschätzung, die Hochbegabte so schnell arrogant wirken lässt? Na ja, sie halten sich selbst für normal und glauben, jeder müsste mit der gleichen Leichtigkeit so viel Wissen erwerben wie sie selbst. Und wer das nicht kann oder sie nicht versteht, der müsste sich einfach mal ein bisschen mehr Mühe geben oder mehr Interesse entwickeln. Dabei vergessen sie leider, dass nicht jeder über die gleiche „IQ-Hardware“ verfügen kann. Und sie vergessen auch – und das meist sehr gründlich – dass sie sich selbst höchst ungern Mühe geben, und dass sie fast immer ausschließlich das tun, was sie selbst interessiert. Also dass sie den gleichen Fehler machen, den sie anderen vorwerfen.

Und dann stehen sie vor sich selbst – und stellen fest, dass sie irgendwie auch nicht so richtig vorwärts kommen. Meist wissen sie genau, dass sie sich jetzt entscheiden müssen, etwas zu tun. Dass sie dafür einen „Plan“ brauchen – also Ziel, Termin, Ablauf, Arbeitsmaterial, Zeit und Ruhe. Und genau in diesem Moment fällt ihnen ein, dass sie ja eigentlich jetzt erst mal ganz was anderes tun könnten. Sie drücken sich also wieder mal vor etwas, was ihnen im Moment einfach unangenehm ist. Und natürlich haben sie dafür eine (nicht sehr intelligente!) Entschuldigung: Sie sind frustriert und haben deshalb keine Motivation, weil

-       sie sowieso keiner versteht
-       sie nicht sicher sind, ob sie das Richtige tun
-       sie sich an „sinnlose“ Regeln halten sollen
-       es zu lange dauert, zu viel Zeit kostet
-       es schwierig wird, durchzuhalten
-       sie statt dessen was „besseres“ oder insgesamt zu viel zu tun haben
-       ihnen niemand hilft
-       alles ohnehin sinnlos ist.

Hm, wen haben sie jetzt davon überzeugt, es lieber bleiben zu lassen, es nicht zu tun? Klar, einzig und allein sich selbst! Denn jeder andere Mensch könnte die gleichen Argumente hervorbringen – bei denen würde man es als Faulheit auslegen.

Es ist auch bei Hochbegabten Faulheit!
Sie sind zu faul für durchschnittliche Ergebnisse, mit denen sie ihren Alltag ganz gut bewältigen könnten und bei Eltern, Lehrern, Autoritäten keinen Ärger auslösen würden. Aber für überdurchschnittliche Ergebnisse haben sie zwar das Potenzial, jedoch noch nicht die Voraussetzungen.
Deshalb müssen wir uns nicht wundern, wenn es bei unserer Förder-Thematik immer wieder darum geht, dass auch Leistung verlangt wird. Nur: Wenn der Leistungsstand, also das Ergebnis, an dem der anderen gemessen wird (also mit dem Durchschnitt verglichen), dann sind Hochbegabte eben oft schon Sieger, ehe sie sich überhaupt angestrengt haben. Das ist kein echter, fairer Wettbewerb! Darauf kann man keine Lust haben, dafür ist keiner motiviert.

Jedoch: es gibt für jedes Thema und jedes Sachgebiet Spezialisten, die richtige Experten sind, auch ohne als „Lehrer“ zu arbeiten. Warum ich Lehrer in Anführungszeichen setze? Weil viele der echten Spezialisten ihr Wissen einfach anwenden und einsetzen, ohne es als Ausbilder oder Hochschullehrer, Dozent, Mentor usw. weiterzugeben. Sie arbeiten auf ihrem Gebiet oder pflegen es als Hobby, sind aber nicht an Schulen, Universitäten oder als Autoren in Fachzeitschriften zu finden! Man muss sie wirklich suchen!!! Und dann mit ihnen in den Leistungsvergleich gehen!!! Da hat dann jeder Hochbegabte ganz schnell das Gefühl, etwas lernen zu können und sich dabei selbst zu entwickeln – also selbst auch höhere Leistungen zu bringen!

Endlich nicht mehr die Anstrengung sich zurückzuhalten, damit die anderen es auch schaffen, sondern genau das Gegenteil – sich anstrengen, um mithalten zu können! Das ist eine ganz andere Art von Wettbewerb, das motiviert! Dafür braucht man nicht mal besondere Förderung – nur den richtigen Ansprechpartner. Nämlich den, der es besser weiß/kann als man selbst. Und der ist in den standardisierten Bildungseinrichtungen selten. Klar, es gibt Spezialschulen und Exzellenz-Unis. Aber auch dort ist nicht jeder Mitarbeiter ein Spitzenexperte für das, was mich fasziniert. Also: Silicon Valley? Am besten bitte direkt vor meiner Haustür und mit einem lebenslangen Vertrag, Festgehalt bei freier Zeiteinteilung und flexibler Themenwahl sowie Wellnesspark- Abo?

Wer von solchen Perspektiven träumt, sollte die Geschichte des High-Tech-Tals in der Nähe der Stanford University genauer betrachten. Es wimmelt darin nur so von Persönlichkeiten, die sich mit dem zentralen Problem der Hochbegabungs-Thematik herumschlagen:
Welchen Nutzen hat wer wovon?

Natürlich kann man nicht zu jeder Zeit vorhersagen, ob eine intelligente Idee auch eine nützliche Idee ist. Um das herauszukriegen, bedarf es oft einer ganzen Reihe mühsamer Versuche. Und die sind mit Arbeit verbunden, für die es keine Erfolgsgarantie gibt. Aber: auch Negativ-Wissen (also Wissen, was etwas NICHT ist, wie etwas NICHT geht usw.) ist sinnvolles Wissen.
Und das ist für manchen Hochbegabten schwer zu akzeptieren: Es steht dem Perfektionismus-Bestreben im Weg! Und es erschwert die Positionsbestimmung im Wettbewerb! Denn zu beweisen, dass etwas NICHT so ist wie bisher angenommen, wird vorläufig noch selten als Leistung anerkannt. Als klug und fleißig gilt eher, wer über eine besonders große Menge bekannten, akzeptierten Wissens verfügt – wer also den „Autoritäten“ folgt, statt ihnen zu widersprechen. Und dabei beginnt Fortschritt doch immer mit der Abweichung vom Bekannten!

Das Silicon Valley ist inzwischen ein Symbol für eine geballte Ladung „Fortschritt durch Konflikte“. Und zwar durch Konflikte, die sich im Wettbewerb herausgebildet haben.
Insofern ist es für Hochbegabte auch ein gutes Beispiel dafür, dass es sich lohnen kann, sich seinen Krisen und Konflikten zu stellen. Du verweist ja auf Schuchardts acht Phasen der Krisenentwicklung. Ich glaube, dass jeder der Wissenschaftler, Firmengründer und Unternehmer von Frederick Emmons Terman und William Shokley bis zu den heutigen Chefs von Google, ebay usw. im Silicon Valley und an allen anderen Fortschrittszentren unserer Erde diese Krisenprozesse persönlich kennen gelernt haben und mehrfach im Leben durchlaufen. Und ich glaube wie Du, dass auch Hochbegabte am besten gefördert werden, wenn sie Krisenprozesse als gesetzmäßig und gleichzeitig als beherrschbar erkennen und erleben dürfen. Im Sport ist ja der Wettbewerb um die ersten Plätze auch nicht krisenfrei – nichts ist ohne Anstrengung zu erreichen, schon gar nicht die Meisterschaft. Und da gibt es ganze Apparate: Organisationen, die mit viel Manpower, Zeit, Energie und Geld den Sportler begleiten und unterstützen auf seinem Weg zu Höchstleistungen. Dass er selbst sich dafür anstrengen muss, dass er auch Rückschläge und Niederlagen aushalten und überwinden muss, das ist sein eigener Beitrag – und den können auch „unsere“ Hochbegabten bringen. Dass sie dabei Unterstützung brauchen, muss endlich zu so einer selbstverständlichen Wahrheit werden wie im Sport. Denn wie Sportler bieten Hochbegabte auf vielen Gebieten nicht nur gewaltigen Nutzen für Wissenschaft und Wirtschaft, sondern zusätzlich auch noch spannende Wettkämpfe. Und zwar nicht nur in den Hightech- , sondern praktisch in allen nur denkbaren Disziplinen!


Das setzt allerdings voraus, dass man gegen die richtigen Konkurrenten antritt – ohne Respektlosigkeit oder gar Verachtung gegenüber jenen, die viel schlechtere Voraussetzungen haben und deshalb nicht die höchsten Leistungen bringen können. Wer Förderung will, muss zum Titelkampf bereit sein. Auch wenn oder sogar weil der Sieger nicht vorher feststeht.

Hochbegabten-Förderung kann also nicht darin bestehen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen wenn es anstrengend wird. Im Gegenteil: Im Training ist der Schwierigkeitsgrad zu steigern – die Komfortzone des sicheren Klassenerhalts bzw. Meistertitels gibt es nur bis zum nächsten Wettbewerb. Und wer sich dem nicht stellen will, der kann auch keine Förderung erwarten. Wer aber bereit ist, seine IQ- Kraft auch wirklich sinnvoll einzusetzen, der muss zurzeit noch mit einiger Mühe nach den richtigen Partnern suchen. Insofern wäre eine „IQ- Partei“ gar nicht so verkehrt. Aber eine Allianz oder Assoziation der verschiedenen einzelnen Förder-Organisationen und Verbände zur Verbreitung besseren Wissens wäre auch schon ganz hilfreich. Wir beide sind ja nicht allein! Und wer „Hochbegabung“ googled bekommt eine Menge Informationen! Vielleicht sollten wir einfach mal alle Hochbegabten aufrufen, dieses Suchwort in ihren Bekanntenkreis zu zwitschern „Wer weiß, was Hochbegabung ist?“ ???
Man muss ja nicht gleich dazu sagen, dass man selbst betroffen ist – interessant könnte es schon werden, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Vielleicht werden dann sogar ein paar eigene Vorurteile in Frage gestellt. Und vielleicht wird auch klarer, welche Förderung tatsächlich gebraucht wird. Denn noch mehr Schule ist es sicher nicht…

Liebe Lilli, jetzt ist ja der Frühling mit seinem Aprilwetter doch endlich da und wir haben schon etwas mehr Grün, mehr Sonne, mehr Wärme – und etwas längere Tage und kürzere Nächte. Ich nutze sie gerade, um Deinem Tipp zu folgen und „Inkognito“[3] zu lesen. Unser Gehirn ist ein faszinierendes Wunderwerk – und mein Gehirn erfährt gerade etwas über sich selbst – wovon ich nicht weiß, was es damit macht! Was käme wohl heraus, wenn unser Gehirn sich selbst beim Denken beobachten könnte? Spannend!

Ich wünsche Dir eine schöne neue Woche und freue mich heute schon auf Deine Antwort.
Alles Gute
Deine Karin




[1] Fritz Oser/Maria Spychiger: Lernen ist schmerzhaft : zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur
[3] Eagleman, David: Inkognito Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns. Frankfurt am Main/New York 2012.