Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Samstag, 7. Januar 2012

Was ist das überhaupt: Bescheidenheit?

Liebe Karin,

Weihnachten. Ist das nicht schon so lange her? Kaum waren die letzten Kerzen ausgepustet. Das letzte Lied gesungen. Da waren wir auch schon wieder mitten drin. In der Politik und im Leben unserer Grossfamilie Deutschland. Christian Wulff. Werden auch hier bald die Lichter ausgehen? War er zu unbescheiden?

Was ist das überhaupt: Bescheidenheit?

Kürzlich habe ich einen Beitrag von Dieter Thomä, dem Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen,  in der ZEIT ONLINE gelesen. Er geht davon aus, dass es eine innere und eine äussere Bescheidenheit gibt.  Die äussere umschreibt er kurz: „Wenn es um äussere Bescheidenheit geht, tut der Volksmund Wahrheit kund: ‚Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.‘“

Die innere beschreibt er als „Mässigung“: „Sie fordert wohlgemerkt nicht Entsagung und Verzicht, sondern die Beachtung des rechten ‚Masses‘, also die ‚Angemessenheit‘.“  Eine ganz gesunde Bescheidenheit: keine Hybris  (Übermut, Anmassung) und keine Unterwürfigkeit. Nicht Schwarz oder Weiss. Aber auch kein Grau. Die Bescheidenheit liegt in der Mitte. Ist aber kein Mittel-Mass. Ein „Mass“ ist sie schon. Das sogenannte rechte Mass.

Thomä folgert: „Wer ein angemessenes, massgerechtes Selbstbild hat, kann sich schwer damit tun, seine Stärken hinauszuposaunen. Er folgt womöglich nicht der richtigen Devise ‚Klappern gehört zum Handwerk‘, sondern stellt sein Licht unter den Scheffel.“

Vor dem Hintergrund der angemessenen Bescheidenheit – wie ist da ein „Klappern“ möglich, damit das eigene Licht nicht unter dem Scheffel landet? Kann es sein, dass Thomä hier genau das Dilemma der Hochbegabten beschreibt? Wie kann ich angemessen bescheiden sein und dabei mein Wissen und Können in die Welt hinausposaunen? Das ist doch ein Widerspruch. Dies vor allem in einem Klima und in einer Zeit, in der gerade die eher Mittelmässigen mit dem grossen Schaumlöffel auf sich aufmerksam machen?

Wenn die Hochbegabten nicht auf sich aufmerksam machen, werden sie übersehen und überhört werden. Klar, dass das ein Weg in die Einsamkeit sein kann. Aber: Praktizieren sie „Klappern“, werden sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlen. In ihrer feinen, differenzierten Wahrnehmung bleiben die IQ>130-Menschen in eben dieser Gedankenfalle sitzen. Und warten darauf,  entdeckt, erlöst, erkannt zu werden. Manche warten schon gar nicht mehr.

Ein Berliner Psychologe hat das einmal  so ausgedrückt: Vor allem diese Frauen sitzen im Keller (!), unter dem Tisch (!!) Ihres eigenen Schlosses (!!!). Punkt.

Und wir – Du, unsere geschätzten Kolleginnen sowie Kollegen und ich – arbeiten daran, um im Bild zu bleiben, ihnen den Schlosspark, den Tanzsaal und die Bibliothek in ihrem Schloss schmackhaft zu machen. Und an ihrer Seite zu sein, wenn sie all die Köstlichkeiten staunend erleben. Wenn sie in ihrem Schloss, in ihrem Leben, ihren wirklichen Platz einnehmen.

Nun können wir ja nicht alle Hochbegabte coachen – und nicht alle wollen gecoacht werden. Was können wir ihnen sagen?

o Finde die dir angemessenen Orientierungsmenschen. Wer fällt mir da spontan ein? Steve Jobs? Gertrud Höhler, Professorin für Literatur, der Journalist Uli Wickert, der Unternehmer Warren Buffett, die First Lady der USA,  Michelle Obama.
o Lies die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel. Der römische Kaiser war Philosoph der Stoa – einer Denkrichtung, die in dem Verdacht steht, dass sie die Leitlinien der englisch-amerikanischen Eliteausbildung nicht unwesentlich beeinflusst.
o Teste deine Grenzen aus.

Angemessen bescheiden zu sein, uns in der Welt zu positionieren und dabei auf  unsere Authentizität zu achten, lernen wir nicht von heute auf morgen. So wie wir kaum von heute auf morgen eine neue Sportart beherrschen oder eine weitere Fremdsprache sprechen können. Wir lernen es bei stetigem Einsatz.

Genau so wie es nicht ausreicht, dass wir uns hin und wieder die Zähne putzen, so dürfen wir auch bei unserer Selbstentwicklung stets am Ball bleiben. Warum also nicht täglich? Am Anfang wird es uns eher Pflicht als Kür sein. Aber das Blatt kann sich bald wenden. Wir erleben, dass es Spass macht wertschätzend, wie Du so schön schreibst, mit uns und anderen Menschen umzugehen.

Und ich zitiere Dich weiter: „Und wenn erst mal verstanden ist, dass diese Wertschätzung eine Quelle von Mut, Kraft, Selbstbewusstsein sein kann, dann wird es auch leichter, mit den eigenen Selbstzweifeln umzugehen.“ Wie Recht Du hast.

Und da wir nun selbstbewusst sind, können wir auch lockerer mit dem Smalltalk umgehen und ihn sehen als das, was er ist: ein Entrée-Gespräch. Vergleichbar mit einem Amuse-Gueule – der Gaumenfreude – zum Beginn eines guten Essens.

Manche Menschen verdrehen allein bei dem Gedanken an Smalltalk die Augen. Lehnen diese Art des einführenden Gesprächs als zu oberflächlich ab. Gewiss: Oberflächliche kleine Gespräche gibt es auch. Genau so wie es Menschen gibt, die sich wenig geschmackvoll kleiden oder ihre Haare auf eine Art tragen, die uns nicht gefällt.

Wenn wir nicht mit einem natürlich guten Stilbewusstsein auf die Welt gekommen sind. Und/oder dies im Laufe unseres Lebens gelernt haben, weil Eltern, Freunde, Kollegen uns darauf aufmerksam gemacht haben, können wir schon mal etwas gewöhnungsbedürftig aussehen. Aber das heisst doch nicht, dass wir nicht ein besonderer Mensch sind. Ich finde: jeder Mensch ist ein besonderer Mensch. Jeder Mensch hat Qualitäten, Talente und Begabungen. Manche kennen sie. Bei manchen sind sie eher weniger entwickelt.

Und so gibt es Menschen, die dieses kleine unkomplizierte Gespräch schon ganz gut beherrschen – wir merken das meistens gar nicht, weil es so natürlich klingt. Und es gibt Menschen, die eher verkrampft witzig oder originell sein wollen. Dabei ist das Einfache oft so naheliegend. Ich habe einmal erlebt, dass der Kapitän eines Fliegers das ganze Flugzeug zum Lachen gebracht hat als er durchs Mikro diesen kleinen einfachen Satz sagte: Wir können noch nicht fliegen: Auf der Startbahn sitzt ein kleiner Hase und will einfach nicht weggehen.

Auch Du hast die Erfahrung gemacht, dass sich viele hochbegabte Menschen einsam fühlen. Mit dem Smalltalk kommen sie aus dieser Sackgasse raus.

Networking funktioniert nicht nur im Internet, sondern auch im richtigen Leben. Warum nicht an der Theke beim Bäcker die Nachbarin fragen, wie das tolle Parfum heisst?

Smalltalk: Wie funktioniert nun dieses Einstiegsgespräch? Machen Sie sich locker. Seien Sie ganz Sie selbst. Bleiben Sie natürlich. Beginnen Sie mit der Einstellung: Ich bin interessiert an anderen Menschen. Wählen Sie leichte, unkomplizierte Themen. Smalltalk-Anfänger sprechen über Naheliegendes wie etwa über:

·        das Wetter
·        den  Anlass (Geburtstag eines Freundes, Hochzeit, Abifeier)
·        den Ort – wo man sich trifft (Ski-Lift, Aufzug).

Ein leichter Einstieg über das Wetter ist meistens willkommen: „Haben Sie heute Morgen auch so gegen Eis und Schnee kämpfen müssen?“ Das mag profan klingen. Aber: wer hat das noch nie erlebt: Eis und Schnee über Nacht?

Jeder kann das wohl nachvollziehen. Und sagen oder denken: Das kenne ich auch.  Und schon haben wir den ersten Schritt in eine Gruppe getan. Und die Sympathie ist auf unserer Seite.

Sicher. Wir können das auch anders machen. Direkt morgens am Aufzug einen Knaller starten wie etwa: „Guten Morgen allerseits! Was meinen Sie: Sollte ich meinen Kindern zuerst  Einsteins Relativitätstheorie oder erst Goethes Faust II erklären? Und sollte ich da geschlechtsspezifische Unterschiede machen – also das Mädchen zuerst auf Einstein ansetzen oder …?

Auf mich würde so ein Gesprächs-Beginn am Skilift eher befremdlich wirken. Andererseits: warum eigentlich nicht mal kühn sein?

So, jetzt schnell zur Tankstelle, ich will mir noch ein paar Zeitungen kaufen. Mal sehen, wen wir da wieder treffen. Um ein bisschen zu smalltalken. Das Wetter ist mein Lieblingsthema. Altokumuli oder Altostratuswolken. Das habe ich noch nicht verstanden …

Ciao Karin. Nach dem Sturm der letzten Wochen wünsche ich Dir einen erholsamen Sonntag mit Sonnerschein und liebenswerten Menschen.

Herzlichst,
Deine Lilli